OE (06.06.2006) zum Hammerwurf-Meeting (Pfingstsonntag) 2006:

„Das ist ein gigantischer Sprung“
Leichtathletik: Weltklasse in Fränkisch-Crumbach: Betty Heidler schraubt deutschen Hammerwurf-Rekord auf 75,16 m
 
Die Bedeutung des großen Wurfs ging Betty Heidler erst nach und nach auf: Die 75,16 Meter, die die Frankfurterin am Pfingstsonntag beim 4. Hammerwurf-Meeting in Fränkisch-Crumbach erzielte, waren deutscher Rekord – und noch viel mehr. Der Qualifikations-Wettkampf im Odenwald markierte zwei Monate vor der Europameisterschaft in Göteborg den Vorstoß in die absolute Weltklasse. „Das ist ein gigantischer Sprung. Soweit habe ich noch nicht einmal im Training geworfen“, staunte die Zweiundzwanzigjährige, die schon in der Vorwoche in Ostrau den Rekord auf 72,91 m geschraubt hatte. Die erste Verbesserung seit ihrem überraschenden vierten Platz bei Olympia 2004 in Athen (72,73 m).

Nun landete das vier Kilogramm schwere Wurfgerät im dritten Versuch in Fränkisch-Crumbach noch 2,25 Meter weiter. „Das sind Welten“, hatte zuvor Ex-Weltmeister Karsten Kobs (Dortmund) nach dem Männer-Wettbewerb über solche Unterschiede erklärt.

Sein vorangegangener spannender Zweikampf mit dem Leverkusener Markus Esser geriet aber durch Heidlers Paukenschlag in den Hintergrund. Und dies, obwohl Publikumsliebling Esser mit persönlicher Bestleistung von 80,32 m erstmals in Fränkisch-Crumbach die 80-Meter-Marke überbot und Kobs mit 78,90 m erstmals in diesem Jahr die EM-Norm (78,65 m) knackte. In der Flut neuer Bestmarken zu Pfingsten blieb der zweite Platz von Lokalmatadorin Katrin Falter bei den Juniorinnen nur eine Randnotiz. Die Nachwuchsathletin, die wie Heidler für LG Frankfurt startet, verfehlte ihren Hausrekord mit 56,29 m um elf Zentimeter.

Mit dem Wurf über die 75-Meter-Marke katapultierte sich Betty Heidler, die bei allen ihren fünf gültigen Versuchen über 71 Meter lag und damit den Wettbewerb jeweils vor der zum zweiten Mal EM-Norm (69,50 m) werfenden Clubkollegin Kathrin Klaas (69,85 m) gewonnen hätte, in einen erlesenen Kreis. In der von großen Leistungsunterschieden geprägten Frauen-Disziplin waren zuvor gerade mal ein halbes Dutzend Athletinnen besser. In der Jahresweltrangliste belegt Heidler Rang drei hinter der Russin Gulfija Chanafejewa (76,94 m) und deren Landsfrau Tatyana Lysenko (75,33 m), die 2005 den Weltrekord auf 77,06 m verbessert hatte.

Im Odenwald, wo das stimmungsvolle Hammerwurf-Meeting mit seiner familiären Atmosphäre zum Anziehungspunkt der deutschen Elite wuchs, ist man inzwischen auf Rekordweiten und das folgende Prozedere eingestellt. Gleich zur Premiere auf dem alten Sportplatz in der Ortsmitte hatte schließlich 2003 die frühere Frankfurterin Susanne Keil (Leverkusen) als erste Deutsche die 70-Meter-Marke überboten. Heidlers großer Wurf schien aber so unglaublich, dass Organisator Peter Falter noch einmal unterstrich: die elektronisch vermessene Weite sei mit einem Maßband nachgemessen, das Wurfgerät geprüft und die obligatorische Dopingprobe veranlasst worden.

„Der Knoten ist geplatzt“, freute sich Bundestrainer Michael Deyhle, der schon beim Abwurf Heidlers gelungenen Versuch mit einem erfreuten „Ja“ begleitet hatte. „Das ist ein Traum für jeden Trainer. Da hat alles gepasst. Aber diese Weite konnte ich nicht ahnen“. Für die Leistungs-Explosion seines Schützlings sah er mehrere Faktoren, die für sich banal wirken, im Zusammenspiel aber besonderen Wert entwickeln: gutes Training, ein gesund überstandener Winter, ideale Wettkampf-Bedingungen und eine intakte Psyche. „Dann wird das manchmal zum Selbstläufer“, weiß Deyhle. Derweil betonte Heidler, neben verbesserter Athletik ihre technischen Fortschritte, die sich in einem schnelleren Abwurf niederschlügen. „Das Wichtigste im Hammerwerfen ist der Rhythmus“, sagte sie. „Ich kann das derzeit gut umsetzen“.

Den Rhythmus der Saison will sie sich durch den Rekord nicht stören lassen. Locker bleiben, die Leistung bestätigen, ihr aber nicht krampfhaft hinterher rennen, beschreibt sie ihre Ansprüche. Deyhle kündigte an: „Wir werden stur unseren Weg weitergehen.“ Freilich schüren die Bestleistung und die gezeigte Stabilität Hoffnungen für die EM (7. bis 13. August). Doch die Olympia-Vierte gibt sich nach den Erfahrungen bei der WM 2005 in Helsinki, wo sie als Medaillenanwärterin in der Qualifikation ausschied, vorsichtig. Ihr Ziel: „Erst einmal die Qualifikation überstehen“.

Volker Bachmann
6.6.2006
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